GAWO Empfehlungen zur Gestaltung der Dauer der Arbeitszeit

 

Empfehlungen zur Gestaltung der Dauer der Arbeitszeit

 

Vorbemerkungen

Mit der Gestaltung der Dauer der Arbeitszeit wird versucht, menschliche Arbeit effektiv und effizient zu gestalten und dabei Beeinträchtigungen der Sicherheit, der Gesundheit und der Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe zu vermeiden, und zwar bei den Beschäftigten wie bei den indirekt Betroffenen. Dabei sind zwei Wirkungsketten zu beachten:

  • die Gestaltung der zeitlichen Struktur der Einwirkung der Belastung zur Vermeidung (oder Rückbildung) beeinträchtigender physischer oder psychischer Beanspruchungsfolgen, wie Ermüdung, Monotoniezustände, Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeit, Handlungsfehler oder Unfälle
  • die Gestaltung der zeitlichen Ausdehnung der Arbeitszeit nach Dauer und Lage zur Vermeidung bzw. Reduzierung sozialer Beeinträchtigungen; z.B. durch die Gestaltung mit Arbeit belegter oder arbeitsfreier Zeit und damit für soziale Aktivitäten in Familie, Freundeskreis oder Gesellschaft nutzbare oder nicht-nutzbare Zeit

Grundsätzlich ist zu berücksichtigen, dass die Auswirkungen der Belastung immer von ihrer

  • Intensität oder Schwere
    und der
  • Dauer, oder genauer: dem zeitlichen Verlauf, ihrer Einwirkung

abhängen. Die Arbeitszeitgestaltung stellt daher so etwas wie die zweite Dimension der Arbeitsgestaltung dar, neben der Gestaltung von Art und Intensität der Belastung, und hat im Arbeitsschutz eine lange Tradition.

Beide Komponenten, Intensität und Dauer, sind in ihrer Wirkung multiplikativ miteinander verknüpft und unterliegen jeweils nichtlinearen, in der Regel exponentiellen Zusammenhängen. Lineare Schätz- oder Berechnungsmodelle (wie eine einfache Mittelwertbildung, z.B. in Ausgleichsrechnungen und Ausgleichszeiträumen) führen daher in aller Regel in die Irre. Es muss daher vielmehr darauf ankommen, die Arbeitszeit so zu gestalten, dass die durch die Arbeit bedingten Auslenkungen in den verschiedenen Wirkungsbereichen im Rahmen der normalen Regulationsmöglichkeiten verbleiben.

Aus diesen empirisch gut abgesicherten Grundüberlegungen ergeben sich folgende Empfehlungen:

Gestaltungsempfehlung 1: Beeinträchtigungen VERMEIDEN statt KOMPENSIEREN

Für alle Bezugszeiträume (z.B. Tag, Woche, Jahr, Lebensarbeitszeit) zeigt sich aufgrund der exponentiellen Zusammenhänge immer wieder, dass es effektiver und effizienter ist, mithilfe kürzerer Arbeitszeiten Beeinträchtigungen von vornherein zu vermeiden und nicht erst bereits eingetretene Beeinträchtigungen mithilfe dann erforderlicher überproportional längerer Pausen- und Ruhezeiten zu kompensieren. Kleinere Auslenkungen vom (unbeeinträchtigten) Ausgangszustand sind schneller in den Griff zu bekommen als größere Auslenkungen.

Daraus ergibt sich die

Gestaltungsempfehlung 2: Massierung von Arbeitszeiten vermeiden

Die Massierung von Arbeitszeiten führt immer und über alle Bezugszeiträume zu überproportionalen Systemauslenkungen biologischer und sozialer Prozesse im Menschen, die überproportional längere Ruhezeiten zur Rückkehr in die Ausgangslage erfordern. Das macht die Massierung von Arbeitszeiten ineffizient, selbst dann, wenn damit längere zusammenhängende Ruhezeitblöcke (wegen des Ausgleichs der vereinbarten Arbeitszeiten) erreichbar sind.

 

Bezugszeiträume für die Gestaltung der Dauer der Arbeitszeit

Bei den Gestaltungsempfehlungen für die Dauer oder den Verlauf der Arbeitszeit sind unterschiedliche Bezugszeiträume relevant:

  • die Dauer der ununterbrochenen Arbeit (Dauer und Verteilung der Arbeits- und Pausen- oder Ruhezeiten)
  • die tägliche Arbeitszeit
  • die wöchentliche Arbeitszeit
  • längere Bezugszeiträume; bis hin zur Lebensarbeitszeit 

A ) Empfehlungen mit Bezug zur Dauer der ununterbrochenen Arbeitszeit

Gestaltungsempfehlung 3: Ununterbrochene Arbeitszeiten sollten möglichst kurz gehalten werden

Ununterbrochene Arbeitszeiten sind so zu begrenzen, dass keine Beeinträchtigungen auftreten (können). Anzeichen für Leistungsbeeinträchtigungen sind z.B. ineffizientes Handeln, Fehlhandlungen und Unfälle. Subjektiv sind Ermüdungserleben, Monotoniezustände oder herabgesetzte Aufmerksamkeit geeignete Indikatoren beginnender oder bereits eingetretener Beeinträchtigungen. Bei physischer Arbeit weisen physiologische Parameter (wie die Pulsfrequenz oder die elektrische Aktivität der Muskeln) auf Beeinträchtigungen (oder deren Entwicklung) hin. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass derartige Beeinträchtigungen nur begrenzt als Indikatoren tauglich sind, denn wenn sich bereits Beeinträchtigungen manifestiert haben, ist es zu spät, sie zu vermeiden. Die Arbeitszeit sollte daher vor dem Auftreten solcher Beeinträchtigungen durch Arbeitsunterbrechungen unterbrochen werden, um eine schnelle Rückkehr zu beeinträchtigungsfreiem Arbeiten zu erlauben.

Otto Graf hat bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts auf die Wirkung von Kurzpausen und das Prinzip der lohnendsten Pause aufmerksam gemacht und beides experimentell belegen können. Das Prinzip hat u. a. (stark vereinfacht) Eingang in die „Bandpause“ (55‘ Arbeit, 5‘ Pause) oder die „Bildschirmpause“ gefunden. Wichtig für die konkrete Ausgestaltung von Arbeits- und Pausendauer sind die Schwere und der Verlauf der Belastung.

 

B ) Tägliche Arbeitszeit / Ruhezeit

Gestaltungsempfehlung 4: Die Dauer der täglichen Arbeitszeit sollte 8 Stunden nicht überschreiten

Die vorliegenden gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse belegen, dass das Unfallrisiko jenseits der 8. Stunde exponentiell ansteigt. In der 12. Arbeitsstunde wird in der Regel das doppelte Risiko für Unfälle im Vergleich mit dem Durchschnitt der ersten 8 Arbeitsstunden erreicht; ein deutliches Zeichen dafür, dass beeinträchtigungsfreies Arbeiten jenseits der 8. Stunde offensichtlich nicht mehr möglich ist. Diese Ergebnisse gelten über verschiedene Berufsgruppen hinweg und damit bei einer „gemittelten“ Belastung, also über verschiedene Arten von Arbeitstätigkeiten hinweg. Bei hoher Belastung, gleich ob physischer oder psychischer Belastung, können auch 8 Stunden am Tag (auch bei Beachtung der gesetzlichen Ruhezeitregelungen) bereits zu lang sein.

Neben der Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit ist bei der Gestaltung der täglichen Arbeitszeit zu beachten, dass diese Zeit nicht die gesamte arbeitsgebundene Zeit darstellt. Hinzu kommen als sozial wirksame arbeitsgebundene Zeiten Wegezeiten, Vorbereitungszeiten sowie Pausenzeiten (für gesetzliche Pausen), die die arbeitsfeie, für soziale Teilnahme verfügbare Zeit weiter reduzieren. Berücksichtigt man eine Schlafzeit von ca. 8 Stunden, ergibt sich bereits bei einer 8-stündigen Arbeitszeit nur ein geringes „echtes“ (d.h. frei verfügbares) Freizeitvolumen, insbesondere wenn man die sonstigen häuslichen Verpflichtungen und die Erledigung persönlicher Bedürfnisse (Essen, Waschen etc.) einbezieht. Bei 12-Stunden-Schichten ergibt sich bei solchen Berechnungen in der Regel ein Anteil unter 0 Stunden und damit kaum noch bzw. keine Zeit mehr für soziale Aktivitäten; wenn nicht – wie oft üblich – die Schlaf- und Erholungszeiten dafür gekürzt werden. Beeinträchtigungen der Gesundheit und der sozialen Teilhabe sind daher bei langen täglichen Arbeitszeiten unvermeidlich und empirisch gut belegt.

In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass die vorliegenden Studien mit vermeintlich unterstützenden Ergebnissen für längere Arbeitstage oder Schichtzeiten in der Regel erhebliche methodische Mängel aufweisen. Diese Mängel beziehen sich u.a. darauf, dass die Ergebnisse nicht an repräsentativen, sondern an ausgesprochen selegierten Stichproben gewonnen wurden und in der Regel auch nicht auf Untersuchungen über längere Arbeitsperioden, z.B. idealerweise ein ganzes Arbeitsleben oder zumindest einen größeren Teil dessen, beruhen.

Die im Rahmen der Flexibilisierung der Arbeitszeit häufig geforderte Möglichkeit der Ausdehnung der täglichen Arbeitszeit – gleichzeitig verbunden mit einer Verkürzung der täglichen Ruhezeit – sollte unter dieser Perspektive kritisch betrachtet werden. Die tägliche Ruhezeit soll schließlich sicherstellen, dass eine verbleibende „Tagesermüdung“, die im Verlaufe des Arbeitstages nicht abgebaut werden konnte, nicht in den nächsten Arbeitstag mitgenommen wird und damit die Ausgangslage für die kommende Belastung des nächsten Arbeitstages schwächt. Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) fordert daher eine tägliche zusammenhängende Mindestruhezeit von 11 Stunden (in Ausnahmefällen auch weniger), die nicht durch Arbeit unterbrochen werden darf.

Damit wird im und über den Kontext der Flexibilisierung der Arbeitszeit eine Aufweichung der Ruhezeitenregelung gefordert, obwohl die vorliegenden Befunde darauf hinweisen, dass diese 11 Stunden ununterbrochener Ruhezeit oft nicht ausreichend und daher beeinträchtigende Folgen zu erwarten sind.

Eine Zerstückelung der Ruhezeit führt dazu, dass Erholvorgänge nicht effektiv, weil unterbrochen ablaufen und die jeweiligen Unterbrechungen das Beeinträchtigungsniveau wieder auslenken, was dann insgesamt wieder eine längere Erholzeit erfordern würde, um auf das angestrebte, beeinträchtigungsfreie Ausgangsniveau zurück kommen zu können.

Hinzu kommt auch hier der Gesichtspunkt, dass für bestimmte Freizeitaktivitäten bestimmte Zeitkontingente zu bestimmten zeitlichen Lagen (wegen des sozialen Rhythmus der Gesellschaft) erforderlich sind und widrigenfalls die tatsächlich zur Verfügung stehende Freizeit nicht für eine ausreichende soziale Teilhabe nutzbar ist; verbunden mit der Konsequenz sozialer Beeinträchtigungen.

 

C ) Wöchentliche Arbeitszeiten

Gestaltungsempfehlung 5: Die wöchentliche Arbeitszeit sollte 40 Stunden nicht überschreiten

Längere wöchentliche Arbeitszeiten führen – empirisch hinreichend belegt – zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen, und zwar über die Effekte der täglichen Arbeitszeit hinaus. Ein Grund dafür ist die überproportionale Massierung und Akkumulation von beeinträchtigenden Beanspruchungsfolgen über die Arbeitstage hinweg und deren fehlende Rückführung auf ein beeinträchtigungsfreies Ausgangsniveau mangels ausreichender Erholzeiten über den Verlauf der Tage der Arbeitswoche hinweg.

Das gleiche gilt für soziale Beeinträchtigungen. Die Reduzierung der Zeit für soziale Teilhabe und deren Phasenverschiebung gegenüber dem sozialen Rhythmus führen zu Störungen in den sozialen Beziehungen und der sozialen Einbindung. Insofern ist auch die Lage der wöchentlichen Ruhezeit (gesetzliche Vorgabe: 35 zusammenhängende Stunden) von Bedeutung. Samstage und Sonntage haben sozial deutlich höhere Nutzbarkeitswerte als die anderen Wochentage. Auch hier ist wieder entscheidend, dass es sich um zusammenhängende und nicht um zersplitterte Ruhezeiten handelt.

 

Gestaltungsempfehlung 6: Massierung von Arbeitszeiten über längere Zeiträume vermeiden

Wie bei den kürzeren Bezugszeiträumen gilt auch bei den längeren Bezugszeiträumen das Prinzip: Massierung der Arbeitszeiten wegen der damit verbundenen Massierung beeinträchtigender Beanspruchungsfolgen vermeiden; auch wenn mit langen Arbeitsphasen Massierungen von Freizeit in größeren Freizeitblöcken erreicht werden können.

Das Grundprinzip ist auch hier wieder, dass sich die Erholung von Beeinträchtigungen durch Massierungen der Arbeitszeit nicht auf einen späteren Zeitraum verschieben lässt. Man kann sich nicht heute verausgaben und im nächsten Jahr davon erholen. Es geht darum, das Aufschaukeln der beeinträchtigenden Beanspruchungsfolgen zu vermeiden, um sie schneller rückbilden zu können. Besser noch ist, beeinträchtigende Beanspruchungsfolgen von Anfang an durch eine belastungsangemessene und sozial adäquate Gestaltung der Arbeitszeit zu vermeiden.

Hier besteht aus arbeitswissenschaftlicher Sicht eines der grundsätzlichen Probleme von Langzeitarbeitskonten, das gut bedacht werden sollte: der „Ausgleich“ für eingetretene Beeinträchtigungen soll planmäßig zu einem Zeitpunkt erfolgen, an dem dieser Ausgleich nicht mehr effektiv wahrgenommen werden kann. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn in jungen Jahren „voll reingeklotzt“ wird, aber später, im Rahmen des vorgesehenen Kompensationszeitraumes, aufgrund bestehender, nicht rechtzeitig kompensierter Beeinträchtigungen die erarbeitete Freizeit nur noch eingeschränkt für den Abbau der akkumulierten physischen, psychischen und sozialen Beeinträchtigungen genutzt und damit Beeinträchtigungsfreiheit nicht wieder hergestellt werden kann; von den Unzulänglichkeiten finanzieller Kompensationsmodelle, die die Beeinträchtigungen ja prinzipiell nicht zurückführen können, einmal ganz abgesehen .

 

D ) Lebensarbeitszeit

Empfehlung 7: Die Lebensarbeitszeit sollte unter Berücksichtigung des Risikos der Berufs- oder Arbeitsunfähigkeit gestaltet werden

Unter Normalarbeit wird in der Arbeitswissenschaft eine Arbeit verstanden, die von den Beschäftigten bis zum Ende ihres Arbeitslebens beeinträchtigungsfrei ausübt werden kann. Davon kann bei der Anzahl der vorzeitig Arbeitsunfähigen wie bei dem Anstieg des Ausfallrisikos im Verlauf der Lebensarbeitszeit bei vielen Tätigkeiten jedoch nicht ausgegangen werden.

Schaut man sich in bestimmten Berufsgruppen die Entwicklung des Arbeitsunfähigkeitsrisikos im Verlaufe des Arbeitslebens an, so kann man feststellen, dass dieses Risiko in den ersten Jahren in der Regel keinen Anstieg erkennen lässt, sich dann nach einer (belastungsbedingten) bestimmten Zeit jedoch ein linearer Anstieg einstellt, der schließlich nach einer weiteren Zeit in einen exponentiellen Anstieg umschlägt.

Aus ergonomischer Perspektive kann man daher nur empfehlen, spätestens diesen Zeitpunkt des Umschlags von einem linearen in einen exponentiellen Anstieg als Kriterium für die Begrenzung der Lebensarbeitszeit zu nutzen. Denkbar wäre auch, das 95%?Kriterium ergonomischer Arbeitsgestaltung heranzuziehen. Sobald mehr als 5 % in einer Berufs- oder Beschäftigtengruppe eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aufweisen, könnte das der Zeitpunkt für die Begrenzung der Dauer der Lebensarbeitszeit sein. Bei Fahrern im ÖPNV und bei Polizisten würde ein solches Vorgehen nach vorliegenden Erkenntnissen beispielsweise zu einer deutlichen Verkürzung der Lebensarbeitszeit führen. Leider liegen bisher nur sehr wenige Abschätzungen des Verlaufs des Ausstiegsrisikos für verschiedene Berufsgruppen oder Tätigkeitsbereiche vor.

Vorzuziehen wäre aus ergonomischer Sicht allerdings eine Umgestaltung der konkreten Arbeitsbedingungen, die das Ausfallrisiko minimiert und damit eine längere beeinträchtigungsfreie Lebensarbeitszeit ermöglicht.

 

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